Stampfbeton in Oberbayern

H2M Architekten
19. Mai 2021
Das sanierte, denkmalgeschützte Wirtshaus, um 1700 erbaut, und der Bürgersaal-Neubau bilden die neue Ortsmitte von Tyrlaching. (Foto: Sebastian Schels)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Der Ländliche Raum erlebt seit vielen Jahren einen starken Wandel. Vor allem die Jungen zieht es seit jeher in die Städte und der demographische Wandel geht mit großen gesellschaftlichen Veränderungen in den Gemeinden und Dörfern, die sie verlassen, einher. In Bayern hört und liest man viel vom Wirtshaussterben. Vielerorts schließen Wirtshäuser ihre Türen für immer, weil deren Betrieb nicht attraktiv genug ist oder sich wirtschaftlich nicht mehr rechnet.

Auch die oberbayerische Gemeinde Tyrlaching hat 2012 mit der Schließung das letzte Wirtshaus im Ort und somit den wichtigsten gesellschaftlichen Treffpunkt für Jung und Alt verloren. Nur durch das außerordentliche Engagement des Bürgermeisters und der Gemeinderäte sowie die Zusammenarbeit mit der Regierung von Oberbayern und den Programmen der Städtebauförderung konnte das historische Wirtshaus erworben werden und eine neue Ortsmitte entstehen. Das Wirtshaus wurde nun umfangreich denkmalgerecht saniert und durch einen Bürgersaal erweitert. Die Ortsmitte wird zu neuem Leben erweckt und ist wieder Impulsgeber für das kulturelle und soziale Leben im Ort und der Region. 

Die Herausforderung an uns Architekt*innen lag, neben dem Umgang mit den baulichen und technischen Schwierigkeiten des mehrfach umgebauten Wirtshauses aus dem Jahr 1700, vor allem darin, die vielen Ideen und Wünsche der Bürger im Entwurf zu berücksichtigen und diese in eine durchgängige architektonische Qualität zu überführen. Das Ergebnis spiegelt den intensiven Austausch zwischen Bürger*innen und Planer*innen wider und ist identitätsstiftend für den Ort. 

Für die Fassade des neuen Bürgersaals wählten die Architekt*innen Stampfbeton. Der hohe handwerkliche Fertigungsgrad war für die Bauherrin, die Gemeinde Tyrlaching, ein wichtiger Aspekt bei der Auswahl der Materialität des Neubaus. (Foto: Sebastian Schels)
Welche Inspirationen liegen diesem Projekt zugrunde?

Das Wirtshaus am Dorfplatz als denkmalgeschütztes Gebäude bleibt das Schmuckstück am Ort und erstrahlt durch den Einsatz ausgewählter Materialien zu neuem Glanz, ohne seine Identität und den Charme der Geschichte zu verlieren.
Der Neubau des Bürgersaals anstelle des Theaterstadels bleibt in zweiter Reihe zum Dorfplatz, ordnet sich dem Denkmal unter und schiebt sich als Monolith aus dem Hang. Die Stampfbetonfassade interpretiert die Erdschichten und harmoniert in der Farbigkeit mit dem Luftkalkputz des Denkmals.

Zwischen Bestand und Bürgersaal entsteht ein großzügiger Vorplatz, der zum Verweilen einlädt. Das offene Foyer verbindet den neuen Saal mit dem Bestand. (Foto: Sebastian Schels)
Harte Schale weicher Kern – Der Bürgersaal mit seiner Stampfbetonfassade ist im Inneren mit Holz ausgekleidet, was für eine exzellente Raumakustik sorgt. (Foto: Sebastian Schels)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Ziel des Entwurfs war es, einen vielfach bespielbaren Ort für die zahlreichen ortsansässigen Vereine zu schaffen und das kulturelle und soziale Miteinander zu fördern. Neben den hochwertig restaurierten Räumen im Bestandsgebäude und dem Bürgersaal für 200 Personen entsteht durch die Gebäudeanordnung des Neubaus zum Bestandsgebäude ein neuer Innenhof, der sich durch eine großzügige Verglasung mit Foyer und Bürgersaal verbinden und unterschiedlich bespielen lässt. 

Durch die topografischen Gegebenheiten schiebt sich der Bürgersaal aus dem Hang. Gleichzeitig entsteht ein fließender Übergang der Dachfläche zur umgebenden Landschaft. Das Dach, das vom Innenhof über eine Landschaftstreppe erreicht wird, kann für Freiluftveranstaltungen wie Musikkonzerte, Trauungen und Freiluftkino genutzt werden und ist ein weiterer Ort für kulturelle Veranstaltungen. 

Nach der umfangreichen denkmalgerechten Sanierung erstrahlt die sogenannte Fletz, der Mittelgang im Erdgeschoss, im neuen Glanz. (Foto: Sebastian Schels)
Nach der umfangreichen denkmalgerechten Sanierung erstrahlt die sogenannte Fletz, der Mittelgang im Erdgeschoss, im neuen Glanz. (Foto: Sebastian Schels)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren NutzerInnen den Entwurf beeinflusst?

Die Bürger*innen der Gemeinde sowie die ansässigen Vereine wurden bei der Entwicklung ihrer neuen Ortsmitte über Workshops, Seminare und die Gründung einer Dorfwerkstatt von Beginn an stark in den Entwurfsprozess mit eingebunden. Wünsche und Anregungen für den weiteren Betrieb und Unterhalt wurden intensiv im Gemeinderat diskutiert und in der Planung berücksichtigt. 

Auch bei der Auswahl der Materialien wurden von den Architekt*innen und Gemeinderäten nachhaltige und handwerkliche Lösungen gefunden und gemeinsam mit regionalen Firmen umgesetzt.

In den Räumlichkeiten im 1. Obergeschoss des Bestandsgebäudes wurden die Stuckdecken restauriert und ursprüngliche Deckenbemalungen teilweise freigelegt. (Foto: Sebastian Schels)
Bei der Sanierung des Bestandsgebäudes wurden in enger Abstimmung mit dem Denkmalschutz historische Bauteile restauriert und an geltende Bestimmungen angepasst – wie beispielsweise das historische Treppengeländer im 1. Obergeschoss. (Foto: Sebastian Schels)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Das Projekt konnte weitestgehend identisch zu den Festlegungen in der Entwurfsphase umgesetzt werden. Die Visualisierung der Leistungsphase 3 entspricht dem Ergebnis. 

Beeinflussten aktuelle energetische, konstruktive oder gestalterische Tendenzen das Projekt?

Der Einsatz von nachhaltigen und traditionellen Materialien wie Stampfbeton, Luftkalkputz, Holz, Naturstein, Ziegelböden etc. verbunden mit handwerklichen Lösungen ist für die gestalterisch hochwertige Umsetzung, aber auch für die Identifikation der Bürger*innen mit der neuen Ortsmitte maßgeblich und der Erfolg für das Projekt.

Der Bürgersaalanbau schiebt sich aus dem Hang heraus und ordnet sich dem Denkmal unter. (Foto: Sebastian Schels)
Welche speziellen Produkte oder Materialien haben zum Erfolg des vollendeten Bauwerks beigetragen?

Die Fassadengestaltung von Bestand und Neubau trägt zum Erfolg des Projektes wesentlich bei. Der neu aufgebrachte Luftkalkputz am historischen Wirtshaus, der ohne Anstrich bleibt, changiert durch die handwerkliche Ausführung in seiner Oberfläche und Farbigkeit. Die Faschen, die sich farblich abheben, sind nicht aufgemalt sondern werden herausgeätzt. Die Fassade erhält eine Ästhetik, die der Historie des Gebäudes auf besondere Weise gerecht wird. 

Die Stampfbetonfassade des Bürgersaals wurde handwerklich aufwendig Schicht für Schicht „gestampft“. Die Farbigkeit der einzelnen Betonschichten wurde im Vorfeld über Musterflächen mit dem Handwerker festgelegt und harmoniert mit der Farbigkeit der Bestandsfassade. Unterschiedliche Sande und Zuschläge aus der Region erzeugen die verschiedenen Farbnuancen der einzelnen Schichten. Diese wurden unregelmäßig und ohne erkennbaren Rhythmus übereinander gestampft, um dem Bild gewachsener Gesteinsschichten möglichst nahe zu kommen.

Lageplan (Zeichnung: H2M Architekten)
Grundriss Erdgeschoss (Zeichnung: H2M Architekten)
Schnitt und Ansicht Westen (Zeichnung: H2M Architekten)
Revitalisierung Gasthof zur Post und Neubau Bürgersaal
2020
Rupertistraße 17
84558 Tyrlaching

Nutzung
Gastronomie, Kultur, Öffentliches Gebäude
 
Auftragsart
Zuschlag nach VOF-Verfahren

Bauherrschaft
Gemeinde Tyrlaching
 
Architektur
H2M Architekten | Ingenieure | Stadtplaner, München/Kulmbach
Projektleitung: Dipl.-Ing. Architektin Gabriele Bruckmayer, Mitarbeit: Christoph Steeg, Borka Palackovic, Cornelia Reisinger, Christian Stauber

Fachplaner
Tragwerk: esg Ingenieure GmbH, Traunreuth
HKLS: sib Ingenieure GmbH, Traunreuth
Elektro: pgt Planungsgruppe Technik GmbH & Co. KG, Traunstein
Freianlagen: Wolfgang Wagenhäuser Landschaftsarchitekt BDLA, Töging am Inn
Brandschutz: Ingenieurbüro Schwab GmbH, Traunstein
Bauphysik: IFB Ingenieure GmbH, Passau
Denkmalschutz: Dr. Dobler - Dienste der Kunst und Denkmalpflege, Wasserburg
 
Bauleitung
Ingenieurbüro Fuchshuber, Altötting
 
Ausführende Firmen
Baumeister: Pfingstl GmbH & Co. KG, Burgkirchen
Trockenbau: Kreuzpointner Innenausbau GmbH, Winhöring
Elektro: Elektro Maier GmbH, Kirchweidach
Zimmerer: Zimmerei Holzbau Grübl GmbH, Winhöring
Estrich: German Estrich GmbH & Co. KG, Trostberg
Stampfbeton: Georg Hofer Lehm & Bau, Kößlarn
Kirchenmaler, Restaurator: Stein Kirchenmaler, Innzell
Schreiner (Fenster, Außentüren): Schreinerei Vitzthum, Buchbach
Schreiner (Möbel): Schreinerei Thomas Trommer, Tuntenhausen
Schreiner (Innenausbau Bürgersaal): Schreinerei Manfred Färber, Wolferstadt
Schreiner (Innentüren): bauer innovativ, Altötting
Schlosser: Haider, Metallbau, Feichten an der Alz
Großküchentechnik: Kapfelsberger GmbH, Teising bei Altötting
Maler: Kagerer Malerfachbetrieb, Burghausen
Bodenbeläge: Messner Raumgestaltung, Altötting
 
Hersteller
Außenputz (Bestand): Solubel Luftkalkputz
Parkett: Hain
Bodenbelag (Bestand/Fletz): Attenberger Bodenziegel
Bodenbelag (Bürgersaal/Foyer): Natursteinplatten «Kirchheimer Muschelkalk»
Alu-Pfosten-Riegel-Fassade (Bürgersaal): Hueck Trigon 50 
Sonnenschutz: Warema
Echtholz Wandverkleidung (Bürgersaal): Lignotrend
Beleuchtung (Pendelleuchten Gasträume Wirt): Fritz Hansen «Caravaggio»
Beleuchtung (Wandleuchten Bestand): Lightnet Caleo Mini Wall W4
Beleuchtung (Fassadenstrahler Bestand): albert Wandstrahler 2481
Beleuchtung (Bürgersaal/Foyer): XAL SASSO PRO 100 Downlight round trimless
Beleuchtung (Bürgersaal): Mawa Design Serie Wittenberg 4.0
Vorhänge Bürgersaal: Kvadrat
Brunnen (Vorplatz): firma proforma
Bodenbelag (Vorplatz): Godelmann
Picknick-Podeste (begehbares Dach): firma proforma

Energiestandard
Neubau: EnEV 2014, Bestand: EnEV 2014, Baubestand
 
Bruttogeschossfläche
1.827 m²

Gebäudevolumen
7.700 m³
 
Kubikmeterpreis
753 €/m³
 
Gebäudekosten
5.800.000 € brutto

Gesamtkosten
6.300.000 € brutto (Kostengruppe 200-600)

Auszeichnung
BDA Regionalpreis Oberbayern 2021 - Shortlist, Architektouren Bayern 2021
 
Fotos
Sebastian Schels

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