Aufgeständertes Strohballenhaus

Atelier Kaiser Shen
10. Mai 2023
Die Solarmodule des PV-Dachs bilden die kleinste Einheit und korrespondieren mit dem Raster der Dachfenster (Foto: Brigida González)
Worin liegt das Besondere an dieser Bauaufgabe?

Typologisch beweist Haus Hoinka, wie Wohnungsbau im ländlichen Raum neu gedacht werden kann. Die Nachverdichtung des gewachsenen Dorfkerns erfolgt mit einer nachhaltigen Baukonstruktion und einfachen Materialien, die trennbar verarbeitet werden. Darüber hinaus bietet das Gebäude einen extrem flexiblen Grundriss, der verschiedene Konstellationen des Zusammenlebens erlaubt. Haus Hoinka wird künftige Veränderungen ermöglichen und durch diese voraussichtlich sogar bereichert.

Um die Strohballen der ‚Bodenplatte‘ vor Wasser zu schützen, wurde das Haus aufgeständert. (Foto: Brigida González)
Welche Inspiration liegt diesem Projekt zugrunde?

Alles fußte auf der Idee, Strohballen kombiniert mit Lehmputz als thermische Hülle für Boden, Decke, Dach und Wand einzusetzen. Eine Praktik, die bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts bekannt ist und aktuell aus vielerlei Gründen wieder aufgegriffen wird: Stroh ist nachwachsend, kreislauffähig und damit klima- wie auch ressourcenschonender als herkömmliche Dämmstoffe. Zudem ist es üppig vorhanden und kann regional geerntet werden. Um auf aufwendige Abdichtungen zu verzichten und die Strohballen in der Bodenplatte dennoch dauerhaft vor Wasser zu schützen, wurde das Haus um ein gesamtes Geschoss aufgeständert. Dabei greift Haus Hoinka behutsam die Körnung sowie die Dachform seiner Nachbarschaft auf und steht mit seiner Staffelung, bestehend aus einem steinernen Sockel und auskragenden Holzbau, in direktem Dialog mit den Fachwerkhäusern im Dorfkern.

Das Holztragwerk sowie der Lehmputz in der Doppelhaushälfte 1 wurden naturbelassen… (Foto: Brigida González)
Wie reagiert der Entwurf auf den Ort?

Das Dorf Pfaffenhofen bei Heilbronn ist geprägt von einem Idyll mit Kirche und Fachwerkhäusern aus dem 16. und 17. Jahrhundert in der Ortsmitte, im Hintergrund erheben sich malerisch Weinberge. Der Ortskern wird nunmehr durch ein Wohnhaus in ortstypischer Kubatur nachverdichtet, das in mehrerlei Hinsicht außergewöhnlich ist. Auf allen Geschossen sind die Wohneinheiten punktsymmetrisch zueinander angeordnet, wodurch alle Bewohner*innen von den vier Himmelsrichtungen des Hauses profitieren: Die Blicke reichen so von jeder Wohnung aus nach Osten zum Kirchplatz, nach Westen zum Garten, nach Norden zu den Weinhängen und nach Süden über die Dächer des Dorfes in die Weite.

…in der Doppelhaushälfte 2 sind diese hingegen weiß pigmentiert. (Foto: Brigida González)
Welche besonderen Anforderungen wurden gestellt? Wie haben Sie diesen im Projekt Rechnung getragen?

Bei Haus Hoinka wurde auf den Einsatz einfacher und ökologischer Materialien Wert gelegt. Neben der Verwendung von Stroh, Lehm und Holz wurde darauf geachtet, dass auch alle anderen eingebauten Materialien eine gute Ökobilanz aufweisen und wieder sortenrein trennbar verarbeitet werden können. Auf schwer lösbare Klebungen haben wir weitestgehend verzichtet. 

Zum Betrieb des Hauses werden hauptsächlich regenerative Energien eingesetzt. Strom wird aus Solarzellen gewonnen, die vollflächig als wasserführende Schicht integriert sind. Mit den PV-Elementen werden insgesamt 30.000 kWh Strom pro Jahr produziert, was den prognostizierten benötigten Verbrauch um etwa 6000 kWh übersteigt. 

Die Enfilade ist im zweiten Obergeschoss um 90° gedreht und quer zum Haus angeordnet (Foto: Brigida González)
Inwiefern haben Bauherrschaft, Auftraggeber oder die späteren Nutzer*innen den Entwurf beeinflusst?

Wichtig für den Bauherr war der Ausblick und die Anpassungsfähigkeit für zukünftige Nutzungen. Beide Wohneinheiten der Doppelhaushälften sind jeweils geschossweise teilbar. Die zwei großen Maisonettewohnungen können in vier kleine Wohneinheiten unterteilt werden. So kann flexibel auf sich verändernde Familienverhältnisse reagiert werden. Der Flächenverbrauch, also der Wohnraum pro Kopf, kann so nach Auszug der Kinder wieder reduziert werden. Das Haus bietet somit – auch ohne bauliche Eingriffe – eine große Nutzungsflexibilität. 

In den Wohngeschossen sind jeweils acht nahezu quadratische Räume mit einer Abmessung von etwa 4 x 4 Metern angeordnet. Da alle Räume nahezu identisch sind, können sie wechselweise als Küche, Schlaf-, Wohn- oder Esszimmer genutzt werden. So können sie über die gesamte Lebensspanne des Gebäudes hinweg ohne allzu aufwendige bauliche Eingriffe mehrmals ihre Funktion ändern. Lediglich die dienenden Räume, beispielsweise die Bäder, sind bei Haus Hoinka aufgrund der Installationen klar festgeschrieben. 

Diese Gleichwertigkeit der Räume, sowie die Trennbarkeit der Bereiche ermöglicht es im Haus verschiedene Wohnungskonfigurationen zu bilden und eine nachhaltige Flexibilität zu schaffen.

Das Deckenheiz- beziehungsweise Kühlsystem hinter Lehmputzplatten schafft eine komfortables Raumklima (Foto: Brigida González)
Ausblick auf Pfaffenhofen: Durch gezielte Blickbezüge  schafft das Gebäude einen Dialog zwischen Haus und Umgebung. (Foto: Brigida González)
Wie hat sich das Projekt vom ersten Entwurf bis zum vollendeten Bauwerk verändert?

Die baukonstruktiv nötige Aufständerung im Erdgeschoss lässt vier sich daraus ergebende offene Felder als Möglichkeitsräume zu. Im ersten Ausbaustand entschied sich der Bauherr dazu, in einem Feld eine Einliegerwohnung zu realisieren. Weitere Ausbauten, etwa ein Wintergarten, eine Werkstatt oder ein Gästezimmer, sind zukünftig denkbar und die Bewohner*innen können das Haus künftig flexibel prägen. Zu dieser nutzungsoffenen Architekturhaltung wurden die Architekten von der Cité Verticale in Casablanca inspiriert. Im nachträglichen Weiterbauen durch die Bewohner*innen dieser Siedlung sieht Atelier Kaiser Shen eine enorme Bereicherung. 

Alle sechs Fassaden – also auch das Dach und die ‚Bodenplatte‘ –  sind in ökologischer Strohballenbauweise ausgeführt. (Foto: Brigida González)
Welche Überlegungen stecken hinter den Entscheidungen für die eingesetzten Materialien?

Im Vergleich zu einem konventionellen Doppelhaus-Neubau gleicher Größe aus Beton oder Ziegel und mit klassischer Dämmung konnten 95 Prozent an CO2 eingespart werden. In den insgesamt 140 m3 verbauten Holzes sind rund 100 Tonnen CO2 gespeichert. Gerade jetzt, da das Ressourcenproblem immer größer wird, bietet sich alternatives, nachwachsendes Dämmmaterial wie Stroh dadurch an, da es besonders klimafreundlich, aber auch schnell, günstig und regional verfügbar ist. Seine Verwendung weist einen vielversprechenden Weg in die Zukunft des Bauens.

Lageplan: Nachverdichtung des Dorfkerns: Das Strohballenhaus greift behutsam die Körnung sowie die Dachform seiner Nachbarschaft auf. (Zeichnung: Atelier Kaiser Shen)
Grundriss OG1, Doppelhaushalte 1 (1), Doppelhaushalte 2 (2): der zentrale Erschließungs- und Sanitärkern wird flankiert von gleichwertigen Räumen mit jeweils identischen Dimensionen. (Zeichnung: Atelier Kaiser Shen)
Längsschnitt, Doppelhaushalte 1 (1), Doppelhaushalte 2 (2). Die Treppe kann als interne Wohnungstreppe, aber auch als Treppenhaus zur Erschließung zweier Wohnungen genutzt werden. (Zeichnung: Atelier Kaiser Shen)
Aufbau des Hauses: Die Doppelhaushälften sind punktsymmetrisch gespiegelt und ermöglichen eine flexible Teilung von zwei bis sechs Wohneinheiten. (Zeichnung: Atelier Kaiser Shen)
Haus Hoinka
2023
Keltergasse 5
74397 Heilbronn
 
Nutzung
Wohnhaus - Doppelhaus 
 
Auftragsart
Direkt
 
Bauherrschaft
Privat
 
Architektur
Atelier Kaiser Shen, Stuttgart | Florian Kaiser, Guobin Shen 
Projektteam: Kilian Juraschitz (Projektleitung), Matthias Stauch, Leonie Stier, Patrick Schneider
 
Fachplaner
Nachhaltigkeit / Bauphysik: Hoinka GmbH, Stuttgart 
HLSE: Energa-plan GmbH, Stuttgart 
Brandschutz: Etgenium GmbH, Langenbach bei Kirburg 
Schallschutz: Planungsgruppe Kuhn GmbH & Co. KG, Sindelfingen 
Lichtplanung: Silvia Barbosa Kaiser, Stuttgart 
 
Ausführende Firmen
Bauunternehmung Haass GmbH & Co.KG, Güglingen
Holzbau (Rohbau): Heyd GmbH Zimmerei - Holzbau, Heilbronn
Holzfassade: Zimmerei Tobias Scheuermann, Sachsenheim
Strohballen-Dämmung: Zimmerei Tobias Scheuermann, Sachsenheim
Trockenbau / Lehmbau: Stukkateur Link GmbH, Lauffen a/N.
Innentüren: Schreinerei Jauß, Sachsenheim
Stahlbau (Balkone): Danner Metallbau GmbH, Güglingen-Frauenzimmern
Flaschnerei, Balkonabdichtung: HS Blechschmiede. Spenglerei, Heilbronn
Elektriker: DTC GmbH, Reutlingen
 
Hersteller
Solardach: Ennogie GmbH, Magdeburg 
Dachfenster OG2: GSL.Glasolux GmbH, Bielefeld 
Dachfenster Treppe (RWA): GSL.Glasolux GmbH, Bielefeld 
Lounge Chair: Carl Hansen C25 
Stühle: Thonet S 214 Esche 
Hocker: Herzog & de Meuron: X-Hocker 
Fensterläden OG: Baier GmbH Slidetec, Burgheim 
Sonnenschutz EG / Balkontüren OG: ROMA, Burgau 
Fenster: Fensterbau Schneider GmbH, Güglingen-Frauenzimmern 
Balkontüre EG: Fensterbau Schneider GmbH, Güglingen-Frauenzimmern 
Eingangstüren: Fensterbau Schneider GmbH, Güglingen-Frauenzimmern 
Doppelstegplatten: Kunststoff-Vertrieb Nuding GmbH, Schorndorf 
Lichtschalter/Steckdosen: JUNG, Schalksmühle. Modell: Jung LS 990 
Pendel-Leuchten OG2: NUD. Modell: Collection Classic Black 
Aufbau-Leuchten OG1: Mawa. Modell: eintopf Wand- und Deckenleuchte 
Türgriffe: Karcher Design GmbH, Bad Rappenau. Modell: Rhodos 
Lehmbauplatten / Lehmfarbe: WEM. Farbton Karamell / Altweiß 
Badfliesen: Villeroy und Boch 
 
Energiestandard
KfW-40-Plus-Effizienzhausstandard,
Effizienzhaus-Plus-Standard 
 
Bruttogeschossfläche
521 m²
 
Gebäudevolumen
2.368 m³
 
Gesamtkosten
k.A.
 
Fotos
Brigida González, Stuttgart

Verwandte Artikel

Vorgestelltes Projekt

Sieveke Weber Architekten BDA

Scheune für Lucia und Samuel

Andere Artikel in dieser Kategorie